VN 97-1

Gedanken im KZ

Der jüdischen Bundesrätin Ruth Dreifuss, welche das grausame Schächten in Schutz nimmt, zum Auswendiglernen gewidmet

Das Folgende wurde im KZ Dachau inmitten aller erdenklichen Grausamkeiten geschrieben. Es wurde heimlich in einer Krankenbaracke aufgezeichnet, in der ich während meiner Erkrankung untergebracht war; zu einer Zeit als der Tod tagtäglich nach uns griff und wir zwölf Tausend von uns innerhalb viereinhalb Monaten verloren.

Lieber Freund,

Du hast mich gefragt, warum ich kein Fleisch esse, und Du wunderst Dich über die Gründe meines Verhaltens. Vielleicht denkst Du, ich habe einen Schwur geleistet - eine Art Reue - mit dem ich mich der großen Freude Fleisch zu essen entsage. Ich weigere mich Tiere zu essen, weil ich mich nicht von anderen Lebewesen, die gelitten haben und getötet wurden, ernähren kann. Ich weigere mich dies zu tun, weil ich selbst so schmerzensreich gelitten habe, daß ich den Schmerz anderer fühle, wenn ich mich meiner eigenen Leiden erinnere. Ich fühle mich glücklich, da niemand mich verfolgt; warum soll ich andere Lebewesen verfolgen oder der Grund ihrer Verfolgung sein?

Ich fühle mich frei, da ich kein Gefangener bin; warum sollte ich der Grund dafür sein, andere Lebewesen zu Gefangenen zu machen und sie ins Gefängnis zu bringen? Ich fühle mich glücklich, da mir keiner ein Leid zufügt; warum sollte ich anderen Lebewesen Leid zufügen oder der Grund dafür sein, daß ihnen Leid zugefügt wird? Ich fühle mich glücklich, da niemand mich verletzt; warum sollte ich andere Lebewesen verletzen oder töten oder der Grund dafür sein, daß sie zu meiner Freude und Bequemlichkeit verletzt oder getötet werden. Diese Lebewesen sind kleiner und hilfloser als ich es bin, aber kannst Du Dir einen vernünftigen Menschen mit edlen Gefühlen vorstellen, der bereitwillig diese Tatsache als Grund benutzt, das Recht für sich in Anspruch nimmt, die Schwäche oder die geringere Grösse auszunutzen? Glaubst Du nicht, daß es gerade des Grösseren, des Stärkeren, des Mächtigeren Pflicht ist, die schwächeren Lebewesen zu schützen, statt sie zu verfolgen, statt sie zu töten? "Adel verpflichtet" und ich möchte in einer edlen Weise handeln. Ich glaube, dass Menschen so lange getötet und gefoltert werden, solange Tiere gequält und getötet werden. Aus dem gleichen Grund wird es weiterhin Kriege geben. Der Grund liegt darin, dass das Töten an kleinen Objekten geübt und perfektioniert wird - moralisch und technisch gesehen. Es ist höchste Zeit, über die vielen kleinen und grösseren Gewalttaten und Gemeinheiten, die wir selbst begehen, entrüstet zu sein. Da es viel einfacher ist, kleine Schlachten zu gewinnen, statt grosse, denke ich, sollten wir erst versuchen, unsere Bereitschaft gegenüber kleinen Gewalttaten und Gemeinheiten zu verringern. Sie vermindern oder besser noch sie ein für alle Mal zu überwinden. Dann wird die Zeit gekommen sein, in der es uns leichter fallen wird zu kämpfen, so dass wir sogar die gewaltigen Verbrechen überwinden können.

Ins Deutsche übersetzter Auszug aus dem Essay "Animals, My Brethren", von Edgar Kupfer-Koberwitz, publiziert in der israelischen Tierschutz-Zeitschsrift "Anima" .
 

Edgar Kupfer-Koberwitz war 1940 im Konzentrationslager Dachau inhaftiet worden. In seinen letzten drei Jahren in Dachau war er in der Verwaltung der Lagerhallen des Konzentrationslagers beschäftigt. Diese Stelle ermöglichte es ihm, ein geheimes Tagebuch mit Hilfe gestohlener Papierstreifen und Bleistiftstummeln zu führen. Er vergrub seine Aufzeichnungen und barg sie wieder, nachdem Dachau am 29. April 1945 befreit wurde.


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