Polizeijagd auf VgT-Fahne
Glosse auf den Polizeistaat von Erwin Kessler, Präsident VgT,
geschrieben zur Zeit des World Economic Forum (WEF) in Davos

Wer denkt, heute seien alle verfügbaren Polizisten auf die WEF-Festung Davos abkommandiert, der irrt. Die Thurgauer Kantonspolizei verpasste es, zwei ihrer Beamten abzukommandieren, die heute nichts zu tun hatten, nichts Gescheiteres jedenfalls, als wegen einer Flagge ein VgT-Fahrzeug zu verfolgen. Ich fuhr mit dem VgT-Bus ins Sporttraining. Wegen des von Verkehrskadetten wie üblich verursachten Staus beim Schlosspark in Frauenfeld, wurde es zeitlich knapp. Auf der letzten Strecke blinkte ein BMW hinter mir und zeigte das Lichtsignal "Stopp". "Ja wahrscheinlich, stoppt selber, wenn ihr nichts zu tun habt", dachte ich und bog zum Trainingscenter ab. Kaum hatte ich dort parkiert, kam ein uniformierter Kantonspolizist namens X: "Verkehrskontrolle". Ich sagte, ich hätte jetzt keine Zeit, da sogleich das Training beginne. Aber im Gegensatz zu mir hatte dieser Beamte, dem die Brutalität ins Gesicht geschrieben war, ebenso wie sein grimmig dreinblickender Kollege, sehr viel Zeit - trotz Davos.

Seit Jahren fahre ich mit einer Vereinsfahne am VgT-Lieferwagen herum, ohne dass ich deswegen jemals angehalten worden wäre, nicht einmal in Kantonen mit aggressiver Polizei. Auf die polizeilichen Drohgebärden hin sagte ich mir, es wäre besser, mit Karate bis zum Trainingsbeginn zuzuwarten, suchte also die verlangten Ausweise heraus, an denen es nach genauer Prüfung nichts zu beanstanden gab. Als X nach durchgeführter Kontrolle des Fahrzeuges, die er - weil ich in Eile war - betont langsam durchführte, um zu demonstrieren, dass ER bestimme, wie lange ich zur Verfügung zu stehen habe... als er dabei leider nichts Vorschriftswidriges finden konnte, gab er mir die Ausweise schliesslich mit der Bemerkung zurück, er werde dann noch überprüfen, ob die Fahne erlaubt sei. Musste er dazu das Fahrzeug verfolgen, stoppen und kontrollieren? Warum schrieb er nicht einfach die Nummer auf? Offenbar hatte er inzwischen selbst Zweifel, ob er in seiner Jagdlust vielleicht den falschen Bock geschossen habe. Jedenfalls war der Elan, den er bei meiner Verfolgung an den Tag gelegt hatte, ziemlich verflogen. Die Fahne, die nun ohne fröhlich zu flattern schlaff herabhing, quasi leblos wie eine zur Strecke gebrachte Jagdbeute, gab wohl - so dämmerte es ihm - nicht die stolzeste Jagdtrophäe seiner Polizistenlaufbahn her. Das bisschen Stoff sah aus wie das Fell eines mageren Kaninchens, ohne Fleisch am Knochen, das Schrot und Halali nicht wert.

Gut, dass diese überflüssigen Polizisten bei ihrer Verfolgungsjagd wegen einer Flagge, die vielleicht nicht erlaubt sein könnte, wenigsten keine Kinder überfahren haben. Dem Thurgauer Polizeikommando rate ich, ihren Blindgänger X zu entschärfen. Der gute Ruf des kantonalen Korps steht auf dem Spiel.

Der deutsche Schriftsteller Karlheinz Deschner schrieb über Blindgänger: "Blindgänger, die herumliegen, sind harmloser als jene, die herumlaufen".

Nun trat zum Glück für den frustrierten Jägersmann der Frauenfelder Statthalter Ernst Müller auf den Plan, um das Jagdglück zu wenden. Er durchforstete mit grossem Fleiss das Strassenverkehrsgesetz mit allen zugehörigen Verordnungen, suchte und suchte - und fand nichts! Nichts, was eine Fahne an einem Fahrzeug als rechtswidrig und damit die polizeiliche Jagdlust als berechtigt hätte legitimieren können. Aber so leicht gibt sich dieser wackere Statthalter nicht geschlagen. Er besann sich auf die drei Grundregeln, mit denen die Verwaltung sämtliche denkbaren Fälle erledigen kann:

1. Das haben wir immer so gemacht.
2. Das haben wir noch nie so gemacht.
3. Da könnte ja jeder kommen.

Wenn der Gesetzgeber nicht verboten hat, was nach Auffassung eines senkrechten Thurgauer Beamten verboten sein sollte, weil sonst jeder kommen könnte und weil man das noch nie so gemacht hat, dann ist der pflichtbewusste Beamte gefordert, das Recht so lange zu verdrehen, bis es passt. Dieser Haltung verdankt er seinen Posten, und den will er nicht verlieren. Als Statthalter ist man Jemand in Frauenfeld. Den Arbeitstag beginnt Statthalter Müller tagtäglich mit der Thurgauer Zeitung, die er von vorn bis hinten liest. Dann weiss er, was die hohen Herren in Regierung und Partei in diesem Land denken und von ihm erwarten. So hat er auch früh gelernt, dass es bei der Rechtsbeugung, pardon, bei der Rechtsauslegung nicht so sehr auf den Wortlaut der Gesetze ankommt, sondern darauf WER etwas getan hat. Der Thurgauer Zeitung kann er genau entnehmen, wer in diesem Kanton mit wohlwollender und wer mit strenger Rechtsbeugung zu behandeln ist. Und eines weiss Statthalter Ernst Müller ganz genau: Über diesen Tierschützer, der da mit einer Fahne an seinem Fahrzeug herumflattert, hat die Thurgauer Zeitung noch selten viel Gutes geschrieben; der gehört also zur Sorte, die gezüchtigt werden muss. Da damit das Ergebnis, eine saftige Busse, feststand, musste nur noch ein Gesetzesartikel her, um den Anschein von Recht zu wahren. Dank langjähriger Berufserfahrung fand Statthalter Ernst Müller bald etwas Passendes, nämlich Artikel 70 Absatz 2 der "Verordnung über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge", der lautet:

Werbetafeln auf Personenwagen dürfen nicht höher als 0.20 m sein und das Fahrzeug um höchstens 0.30 m überragen.

Abgesehen davon, dass diese Vorschrift ausdrücklich für Personenwagen gilt, das VgT-Fahrzeug aber ein Lieferwagen ist (Ford Transit) habe ich laut Statthalter Ernst Müller diese Vorschrift dadurch verletzt, dass auf dem Fahrzeug - Zitat aus der Bussenverfügung - "eine Fahne mit einer Werbeaufschrift des Vereins gegen Tierfabriken (VgT) befestigt" gewesen sei, mit einer 1.25 m hohen Fahnenstange. Tatsache ist indessen, dass diese Fahne keine "Werbeaufschrift" aufweist, sondern das Logo des VgT, wie es auch auf Drucksachen figuriert. Es handelt sich klarerweise nicht um eine Werbefahne, sondern um eine Vereinsfahne, und schon gar nicht um eine Werbetafel. Für Statthalter Ernst Müller, im Bestreben, den Übereifer von Polizist X zu legitimieren, zählen aber - frei nach Bertold Brecht - nicht die Fakten, sondern die Thurgauer Zeitung; im Notfall müssen die Fakten dran glauben. So wird aus einer Fahne - simsalabim - eine Tafel.

Als es darum ging, gegen die skandalösen, schweizweit bekanntgewordenen Tiermisshandlungen in Wellhausen vorzugehen, war das Bezirksamt Frauenfeld lange nicht so eifrig, wie jetzt gegen mich wegen einer Vereinsfahne.

Ist ein Stofftuch eine "Tafel", eine Vereins- oder Schweizerfahne eine "Werbetafel"? Werbung wofür? Es ist doch immer wieder schön, wenn Klarheit geschaffen wird. Schweizerfahnen, Thurgauer Fahnen und die Standarte des Musikvereins Alpenrösli sind nun also "Werbetafeln". Gut, dass wir das jetzt wissen, hätten wir nicht gedacht. Nun heisst es künftig am 1. August aufpassen. Gemäss Strassenverkehrsgesetz sind Strassenreklamen im Sichtbereich der Autofahrer bewilligungspflichtig. Am 1. August dürfen Kinder also nur noch mit einer Polizeibewilligung Schweizerfähnchen und Lampions im Sichtbereich von Autofahrern herumtragen. Da kommt eine gewaltige Arbeit auf Polizist X zu - Verfolgungsjagden auf unbewilligte Lampions und Schweizerfähnchen.

So weit so schlecht. Aber was ich wirklich nicht verstehe: Während laut Bezirksstatthalter Ernst Müller eine Fahne eine "Werbetafel" darstellt, gilt das offenbar nicht für überdimensionale Kunststoff-Poulets auf dem Dach der FRIFAG-Lieferwagen, von denen im Thurgau 29 Stück herumfahren!

 
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Bild oben:
Überdimensionales Kunststoffpoulet als Warenwerbung auf dem Dach eines Fahrzeuges der Frifag, Märwil: erlaubt

Bild unten:
VgT-Vereinsflagge am VgT-Fahrzeug: schikaniert und gebüsst

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Es ist ausgeschlossen, dass Polizist X noch nie eines dieser Poulet-Fahrzeuge gesehen hat. Ich bin sicher, er hat noch nie eines so verfolgt wie mich mit der Vereinsfahne. Warum wohl? Vermutlich weil er wie Statthalter Ernst Müller täglich die Thurgauer Zeitung liest und darum weiss, wen er zu schikanieren hat und wen nicht.

Gemäss Bundesverfassung sind alle Bürger vor dem Gesetze gleich - aber bekanntlich sind einige etwas gleicher. Solange an den Schaltstellen unseres Staates noch hauptsächlich Fleischfresser hocken, hat die Fleischmafia mehr Rechte als eine Vereinigung, welche vegetarische Ernährung befürwortet. Ein Kunststoffpoulet auf einem Auto ist darum erlaubt, die Fahne eines Tierschutzvereins nicht. Eine Hoffnung bleibt: Mit ihrer ungesunden Ernährung eliminieren sich diese Menschen mit ihrer Höhlenbewohner- und Raubtierkultur vorzeitig, wie ein Blick auf die Sterbestatistik zeigt. Ernährungsbedingte Zivilisationskrankheiten stellen die überwiegende Todesursache dar.

Die Bussenverfügung des Bezirksamtes Frauenfeld ist rechtskräftig geworden, weil ich die Einsprachefrist verpasst habe. Seither warte ich vergeblich auf einen Polizisten, der mich wegen dieser Fahne nochmals verzeigt. Das nächste mal wird das Verfahren erst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte enden. Aber Polizisten von der Sorte X gibt es offensichtlich nicht viele. Dieser glückliche Umstand erspart - wie es scheint - dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Verfahren über die Frage, ob eine Fahne eine Tafel ist.

Anmerkung:
Statthalter Müller ist Parteimitglied der SVP (Schweizerische Viehhalter Partei), welche kürzlich die Abschwächung des Tierschutzgesetzes gefordert hat. Das löst endlich das Rätsel, warum er ein Poulet auf einem Autodach, zur Förderung des Fleischabsatzes, selbstverständlich in Ordnung findet, nicht jedoch die Flagge des Vereins gegen Tierfabriken.


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