Aus der Weltwoche 39/04

Walter Bosch liest Schweizer Verlegern die Leviten

Von Walter Bosch, 60, ehemaliger Chefredaktor, Mitglied der Ringier-Geschäftsleitung und erfolgreicher Werber ist heute selbständiger Unternehmer sowie Vizepräsident des Verwaltungsrates von Swiss.

Das Volk traut sogar dem Bundesrat mehr als den Medien, Gratiszeitungen sind beliebter als seriöse Titel: Walter Bosch erklärte den Verlegern am Jahreskongress der Schweizer Presse, was falsch läuft im Journalismus. Seine Rede in leicht gekürztem Wortlaut.

Lassen Sie mich vorab mit einer Legende aufräumen, die von den Mitgliedern Ihres Verbandes, den Verlegern, immer wieder verbreitet wird. Sie dient zur Erklärung der Leserverluste, die trotz des eifrigen Schönschreibens der jeweiligen Mach-Zahlen nicht ganz zu verbergen sind. Die Kausalität dieser Legende funktioniert so: Die Konkurrenz nimmt zu, der Fernsehkonsum nimmt zu, die böse Gratiszeitung quält uns, die Haushaltbudgets werden kleiner, nur deshalb verlieren wir Leser, und weil wir weniger Leser haben, wandern die Anzeigen ab, der Kostendruck nimmt zu, wir müssen sparen, und deshalb können wir die Qualität nicht halten.

Es ist genau umgekehrt: Weil die Printmedien die Qualität als untergeordneten Faktor im Marketingmix behandeln, schwindet das Vertrauen, und dann verschwinden die Leser, die ihr Blatt nicht mehr lieben, dadurch wandern die Anzeigenkunden ab, und dann müssen die Redaktionen sparen, und die Rest-Qualität sinkt noch weiter.
Sie müssen mir das nicht glauben. Aber vielleicht glauben Sie der Repräsentativbefragung der Forschungsstelle der ETH: Beim Vertrauensindex der öffentlichen Institutionen haben sich die Medien von 1997 bis 2004 von einem Index von 5,90 (10 = volles Vertrauen) auf 4,79 verschlechtert, also um volle 18,8%. Da ist sogar der gebeutelte Bundesrat mit plus 7% noch vertrauenswürdiger.

Die Leser haben genug von Thesenjournalismus, Pseudo-Primeurs, Respektlosigkeit, Vermischung von Artikel und Kommentar, Leichtfertigkeit und tendenziöser Gewichtung der Themen. Unterschätzen Sie die Abneigung des direkten Demokraten gegen Bevormundung und Manipulation nicht. Wenn er sich schon instinktiv dagegen sträubt, dass der Bundesrat sich in Abstimmungskampagnen einmischt, dann will er es mit Sicherheit von seinem Leibblatt auch nicht. Er will Informationen, Fakten, ja selbst Meinungen, aber er will nicht manipuliert werden. Der unterschätzte Leser spürt die Absicht und ist mit Recht verstimmt.

Wo liegen die wahren Ursachen dafür, dass die relevanten fünf Titel mit Zielpublikum Wirtschaftsführer von 2003 auf 2004 sage und schreibe 209000 Leser verloren haben? Nicht einer der drei von der Werbewoche befragten Verlagsverantwortlichen dieser Titel sucht die Ursachen für diese schmerzlichen Verluste bei sich. Gerhart Isler sagt: «Die Wirtschaft ist nicht mehr das Modethema, das sie einmal war.» Auch wieder so eine beschönigende Legende, die wie alle Legenden natürlich auch ein kleines Körnchen Wahrheit enthält.

Aber ich behaupte, dass der ausschlaggebende Faktor Vertrauensverlust heisst. In der repräsentativen Studie vom Zürcher Institut für Markt- und Kommunikationsforschung D&S zum sozialen Klima der Schweiz wird die Frage gestellt: «Was ärgert Sie heute an den Medien am meisten?» Mit grossem Abstand führt dabei die Antwort «Schludrige Recherche».

Noch interessanter ist die dramatische Zunahme des Ärgers. 2002 waren noch 42% der Befragten dieser Meinung, 2003 waren es schon 53%, und 2004 wurde der – vorläufige – Höhepunkt erreicht: 61% der 18- bis 65-Jährigen nennen dies als Problem. Bei den Führungspersönlichkeiten sind es sogar 72%.

Liebe Verleger: Wir haben dringenden Handlungsbedarf. Statt Legenden zu konstruieren und sie am Ende selber zu glauben, sollten Sie dringend etwas unternehmen. Sie sind ja nicht zuletzt auch Unternehmer. Oder nehmen Sie es einfach hin, dass Abo- und Kaufzeitungen im Jahr 2000 noch bei 59% als «vertrauenswürdig» galten und im Jahr 2004 nur noch bei 33%? Interessiert es Sie nicht, dass 2000 die abonnierte Zeitung bei 45% noch als «sympathisch» galt und 2004 nur noch bei 20% (D&S-Studie). Können Sie damit leben, dass Gratis-Wochenzeitungen bei den Lesern als deutlich «glaubwürdiger» wahrgenommen werden als klassische Zeitschriften, Tageszeitungen und Sonntagszeitungen (wobei die Sonntagszeitungen bezeichnenderweise am schlechtesten abschneiden)? Die Gratiszeitungen gelten sogar als gründlicher recherchiert.

Immer mehr bunte Luftballons
Wenn ich zynisch wäre, würde ich sagen: Solange die Kasse stimmt, ist das wurscht. Aber Sie wissen selber am besten, dass die Kasse nicht mehr stimmt. Bei der Statistik über Werbemittel mit abnehmender Bedeutung 2004 kommt zuoberst die Tageszeitung mit 19,8% (laut einer Befragung der Werbeverantwortlichen der 500 grössten Werbeauftraggeber). In der Prognose zum Mediamix der klassischen Werbung wird die Presse bis 2008 als einziges Medium (ausser Radio) noch einmal wesentlich an Marktanteil verlieren, nämlich 11,4%. In den letzten zehn Jahren hat die Presse schon 12% verloren, und es ging keineswegs alles – auch wieder so eine Legende – ins böse Fernsehen.

Was ist zu tun? Kümmern Sie sich intensiver um den Inhalt Ihrer Produkte als ums Marketing. Und belästigen Sie ihre gutwilligen Leser nicht mit den Auswüchsen des Mid-Risk-Journalismus. Was Sie vor allem bekämpfen müssen, ist:

1 Thesen-Journalismus: Hugo Bütler hat hier vor einem Jahr – offensichtlich erfolglos – davor gewarnt: «Das ist eine Gratwanderung, die fahrlässig und unnötigerweise, aber hoch wirksam die Glaubwürdigkeit unseres Metiers in Frage stellt. Ob man mit dieser Methode ‹Thesen-Journalismus› zu betreiben oder ganz einfach Treibjagden gegen Personen in Gang zu setzen sucht – mit Information, Fairness oder gar Qualität hat das alles wenig zu tun.»

Thesen-Journalismus ist die gnadenlose Verfolgung eines Vorurteils. Die Story ist geschrieben, bevor sie überhaupt recherchiert ist. Und dann klittert man Halbzitate zusammen, bis die These gestützt ist. Der Rest stört und wird weggelassen. Das ist nicht nur Betrug am Opfer, sondern auch Betrug am Leser. Denn ihm wird als Recherche vorgespiegelt, was im Grunde nur ein voreingenommener Meinungsartikel ist.

Bundesrat Leuenberger sagte in einem Interview: «Der Schweizer Journalismus hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Insbesondere in der Sonntagspresse wird heute hemmungslos Thesenjournalismus betrieben. Da ruft man absichtlich ein Amt nicht an, damit ja die These nicht stirbt.» Aus meiner Erfahrung möchte ich beifügen, dass ich mehrfach erlebt habe, wie die Swiss-Pressestelle am Samstag um 18.00 Uhr angerufen wurde für eine Stellungnahme zu einem Thema, das schon die ganze Woche «recherchiert» wurde. Im Text hiess es dann: «Swiss wollte keine Stellung beziehen.»

2 Primeur-Jagd. Im Gegensatz zur weidmännischen Jagd, die am Sonntag verboten ist, wird vor allem am Tage des Herrn Halali geblasen. Was auch nur im Entferntesten an eine News-Story erinnert, wird zur Schlagzeile aufgeblasen. Meistens unter Zuhilfenahme scheinbarer Zitate in der Preislage: «wie aus Kreisen des Verwaltungsrates (sic!) bestätigt wird» oder noch präziser durch «gutinformierte Quellen».

Dass die meisten dieser Enthüllungsstorys im Verlaufe der Woche mangels Hard Facts absterben, interessiert schon am nächsten Sonntag niemanden mehr, schon gar nicht die Redaktion. Auch wochentags werden immer mehr bunte Luftballons produziert. Zum Beispiel am Mittwoch, 15. September, wo die einzige Quelle für eine Aufmacherstory auf Seite eins hiess: «aus einem internen Papier». Mein Gott, wenn Sie wüssten, wie viele interne Papiere es gibt in einem Unternehmen mit knapp 7000 Mitarbeitern. Sie möchten ein Beispiel? Da wird eine scheinbar intensiv recherchierte Story darüber gemacht, dass im Bundesrat darüber gestritten wurde, ob Deiss oder Leuenberger den neuen Bundesplatz rhetorisch adeln würde, und dass am Ende Deiss sich durchgesetzt hat. An der Geschichte ist kein Wort wahr, nie hat der Bundesrat darüber diskutiert. Aber sie wird am nächsten Tag kommentiert vom Stadtpräsidenten, und dann verselbständigt sie sich bis ans Ende aller Tage, und niemand kann sie je wieder aus der Welt schaffen.

Oder ebenso beliebt: Ein Interview wird korrekt wiedergegeben (es ist ja auch abgesegnet), aber in der Überschrift, im Kommentar, im Aushang steht etwas völlig anderes, das sich im Interview so gar nicht finden lässt. Die ganze öffentliche Diskussion basiert dann auf diesen Unwahrheiten.

Und noch so ein Ärgernis: Niemand übernimmt die Verantwortung für Titel, Bildlegende und Aushang. Der Journalist schiebt’s auf den Redaktor, der Redaktor schiebt’s auf den Produzenten, der Produzent schiebt’s auf den Chefredaktor, der Chefredaktor ist nicht erreichbar.

3 Verantwortungslosigkeit. Es geht um die zunehmende Leichtfertigkeit, mit der mit Menschen umgegangen wird, der Mangel an Respekt und das Fehlen jeglicher Vorstellung darüber, was gewisse Geschichten auslösen können. Oder schlimmer: Das bewusste Inkaufnehmen solcher Folgen. In der Standpauke an die Medien im Sommer dieses Jahres hat der scheidende deutsche Bundespräsident Johannes Rau die Journalisten an ihre gesellschaftspolitische Verantwortung erinnert. Er sagte: «Journalisten sind Beobachter, nicht Handeln-de. Journalisten sollen die Wirklichkeit abbilden. Journalisten tragen Verantwortung für das, was sie tun.» Dem ist nichts beizufügen.

4 Bevormundung: Es gibt vor allem zwei beliebte Methoden, den Leser zu bevormunden. Die eine besteht darin, über einen Kommentar «Kommentar» zu schreiben. Dadurch entsteht der Eindruck, die anderen Artikel dieses Mediums seien faktenorientiert und frei von der Meinung des Autors. Oft ist aber das Gegenteil der Fall: Der Artikel ist nichts anderes als eine verkappte Meinungsäusserung, ein Kommentar über dem nicht «Kommentar» steht – der Leser wird für dumm verkauft, was er nachweislich nicht ist. Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs hat gesagt: «Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.»

Unsichtbar wie Copperfield
Die zweite Methode ist die Gewichtung der Themen. Ein gutes Beispiel dafür fand ich am Montag dieser Woche. Die eine grosse Zürcher Tageszeitung (die mit den 225 Jahren in der Kopfzeile) berichtete auf der Aufschlagseite des Regionalbundes über die Eröffnung des Flughafens mit einem grossen, bebilderten, fundierten, gut geschriebenen Bericht und der Schlagzeile «Begeisterung für den neuen Flughafen Zürich». Immerhin hatte der Anlass 270000 fröhliche Besucher mobilisiert.

Bei der anderen grossen Tageszeitung (die mit dem Wort «unabhängig» in der Kopfzeile) sucht man das Thema auf der Aufschlagseite des Regionalbundes vergeblich, obwohl die Mehrzahl der Besucher vermutlich diese Zeitung abonniert hat. Auf der zweiten Seite heisst die grosse Schlagzeile: «Wir sind gegen die Atomenergie als solche» und die kleine Schlagzeile – oh Wunder – doch noch zum Thema Flughafen: «Ungebrochene Liebe zur Aviatik». Der erste Satz des kleinen, unbebilderten Berichts, der spürbar mit gesträubter Feder geschrieben wurde, lautet übrigens: «Der Fluglärm beherrscht die öffentliche Diskussion.»

Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich mir manchmal wünschte, die Verleger würden nicht nur einmal im Jahr sichtbar, wenn sie an ihrem Kongress tanzen. Sie haben eine Fähigkeit entwickelt, sich unsichtbar zu machen, um die sie David Copperfield beneiden müsste.

Wem es gelingt, sie in ihren gediegenen Büros aufzustöbern, der muss sein Anliegen unter einem Sperrfeuer von Worthülsen begraben. Redaktionsstatut, Unabhängigkeit, Einzelweisungen, Vertrauen zum Chefredaktor, Dienstweg und was der Ausflüchte mehr sind. Ja zum Donnerwetter, wer ist denn am Ende verantwortlich, wenn nicht der Verleger? Gerd Schulte-Hillen, ex Vorstandsvorsitzender von Gruner + Jahr, hat geschrieben: «Liegt denn die Verantwortung für den Inhalt des Blattes auch beim Verleger? Antwort: ja. Nimmt er sie wahr? Je kompetenter er ist, desto besser. Für ihn selbst, für die Journalisten, für das Blatt.» Diese Definition von verlegerischer Verantwortung wird nicht jeder Journalist mit Wohlbehagen lesen.

Der Journalismus ist zu wichtig, um ihn allein den Journalisten zu überlassen. Man denke nur an die lächerliche Diskussion, ob der Presserat nur den Journalisten gehören soll oder doch auch den Verlegern. Wenn es so ist, wie ich behaupte, und die inhaltliche Qualität der alles entscheidende Erfolgsfaktor eines Mediums ist, dann gehören die Verleger unzweifelhaft dazu. Den Journalisten scheint dieses Thema nicht wichtig genug zu sein. Es gibt zwar einen Verein «Qualität im Journalismus». Er hat sogar eine Website. Der letzte Eintrag im Gästebuch stammt allerdings vom 4. August. Vom 4. August 2000.
 


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