Rassismus- Totschlagkeule:

Chefredaktor Roger Köppel zum Falls Sarrazin
im Editorial der Weltwoche vom 1. September 2010

Noch war sein neues Buch nicht veröffentlicht, da ging es schon los. Thilo Sarrazin, Bundesbank-Vorstand, ehemaliger Finanzsenator Berlins, SPD-Mitglied, wurde als Rassist und Biologist beschimpft. Durch die Medien geisterten Textpassagen, aus dem Zusammenhang gerissen, frei interpretiert, vermischt mit Interview-Fetzen, ausgedeutscht und kommentiert in den Leitartikeln und Feuilletons des Landes. Es sickerte durch, dass sich Sarrazin mit Ausländern befasse, die Muslime kritisiere und generell eine zu starke demografische Ausbreitung bildungsferner Schichten in Deutschland befürchte. Zudem äusserte er in Interviews die wissenschaftlich unbestrittene Feststellung, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen durch bestimmte Gene auszeichneten.

Das war zu viel. Die Bundeskanzlerin intervenierte. Sarrazins Buch, das sie nicht gelesen haben konnte, sei für die Integrationsdebatte «nicht hilfreich». Sie deutete, unterschwellig, gleich den Rauswurf des Nonkonformisten aus der Bundesbank an. Aus der SPD-Zentrale wurde gleichlautend mitgeteilt, man denke über einen Parteiausschluss nach, die Grenzen des in Deutschland Zulässigen seien überschritten. Am Montag gipfelte die öffentliche Steinigung des Islamkritikers darin, dass sich Sarrazin in der Diskussionssendung «Beckmann» einer 6:1-Übermacht von Gegnern stellen musste. Noch selten sind journalistische Anstandsregeln handgreiflicher ausgehebelt worden: Sarrazin wurde von seinen Kontrahenten nicht nur laufend unterbrochen, auch der Moderator liess ihn kaum ausreden, und als ob die Einkesselung im Studio noch nicht gereicht hätte, wurden schliesslich noch auswärtige «Experten» eingezoomt, die in den Chor der Empörten einstimmten. Die Selbstgerechtigkeit, mit der sich die Sarrazin-Gegner als Gutmenschen produzierten, ritzte die Schmerzgrenze mehrfach.

Mag ja sein, dass sich Sarrazin als Bundesbanker zurückhaltender äussern müsste. Durchaus möglich, dass sein Buch auch Irrtümer enthält wie die meisten Bücher, die landauf, landab geschrieben werden. Der Skandal aber liegt woanders. Wir beobachten den von ganz oben betriebenen Versuch, eine unverwünschte Stimme zum Schweigen zu bringen. Sarrazin soll an seinem demokratischen Grundrecht, die eigene Meinung frei äussern zu dürfen, durch Diffamierung und Rufmord gehindert werden. Statt mit Argumenten auf den Inkorrekten zu reagieren, deckt man ihn mit einer Lawine von Anschuldigungen zu, um ihn gesellschaftlich zu erledigen. Dass dieses undemokratische Verhalten von den Regierungsparteien, aber auch von den meisten Medien willig praktiziert wird, sagt viel aus über das politische Selbstverständnis der Eliten in der Bundesrepublik.

Deutschland ist eine junge Demokratie. Das wird jetzt deutlich sichtbar. Man misstraut dem Volk, man misstraut sich selber. Die Folge ist eine verklemmte Diskussionskultur, die im Rückgriff auf historische Erfahrungen die offene, freie Auseinandersetzung scheut. Was einst eine verständliche Reaktion auf schmerzhafte, bürgerkriegsähnliche Konflikte in den zwanziger und dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts war, ist längst zu einem Alibi geworden, das die Elite immer dann bemüht, wenn sie kontroverse Debatten fürchtet. Es hat etwas Lächerliches, wenn ein gestandener, standhafter (Sozial-)Demokrat wie Thilo Sarrazin heute mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht wird, nur weil er sich Gedanken darüber macht, dass Intelligenz zu einem gewissen Teil erblich sei und einzelne Völker bestimmte genetische Prägungen aufwiesen. Hier fallen die Vorwürfe auf die Urheber zurück: Es gehört zu den düstersten Erfahrungen der deutschen Geschichte, Leute aufgrund ihrer Gesinnung in militanter Weise auszugrenzen. Reife Demokratien steigen in Diskussionen ein. Unreife Demokratien verhängen Sprechverbote.


Startseite VgT